Inklusion zum „Billigtarif“?

Bildung: Inklusion zum „Billigtarif“?

 

Der Sekundarschullehrerverband (SLV) erwartet von der Landesregierung Sachsen-Anhalt mehr Unterstützung bei der Umsetzung der im neuen Schulgesetz beschriebenen Inklusion. „Der Sekundarschullehrerverband ist weder gegen Gemeinschaftsschulen noch gegen Inklusion. Für das gemeinsame Lernen von Schülern mit Lern- oder Sprachbehinderung an Regelschulen brauchen wir ausreichend und qualifiziertes Personal und Geld für die Ausstattung der Schulen“, betonte Claudia Diepenbrock, Vorsitzende des SLV.

Im November 2012 hat der Landtag Sachsen-Anhalt ein neues Schulgesetz beschlossen und damit den Weg frei gemacht für Gemeinschaftsschulen und inklusive Bildung in Sachsen-Anhalt. Schwerpunkt des neuen Schulgesetzes ist die Einführung der Gemeinschaftsschule auf freiwilliger Basis sowie die Beseitigung von Benachteiligungen der Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen in allen Lernprozessen (Inklusion). Die neue Schulform enthält die Möglichkeit des längeren gemeinsamen Lernens und bietet alle Bildungsabschlüsse bis zum Abitur an.

Erstmals haben auch Forderungen aus der UN-Konvention für Menschen mit Behinderungen Eingang in das Schulgesetz gefunden. „Dies ist ein klares Signal, Benachteiligungen von Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen zu beseitigen und dazu beizutragen, dass ihnen eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ermöglicht wird“, so Kultusminister Stephan Dogerloh. Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention fordert ein „inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen“. Menschen mit Behinderungen sind Teil des allgemeinen Bildungssystems und haben grundsätzlich uneingeschränkten Zugang zu einem inklusiven, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an allen Schulen.

Masterplan

„Gemeinsames Lernen ist ein erstrebenswertes Ziel, stellt aber auch höchste Anforderungen an die sächlichen und vor allem an die personellen Ressourcen“, sagte SLV Landesvorsitzende Diepenbrock. In einem Thesenpapier hat die dbb Lehrergewerkschaft notwendige Rahmenbedingungen für das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Förderbedarf formuliert: Eine moderne, barrierefreie Ausstattung der Sekundarschulen, genügend Fachpersonal, das heißt speziell ausgebildete Lehrkräfte für Lern-, Sprach-, Verhaltens- und Sinnesbehinderungen, Schulsozialarbeiter, Schulpsychologen und pädagogische Mitarbeiter, Anpassung der Fort- und Weiterbildungsangebote an die Anforderungen der inklusiven Schule und die Unterstützung der Lehrkräfte während des gesamten Umgestaltungsprozesses durch ein professionelles Team von Fachbetreuern, Fachmoderatoren und Schulentwicklungsberatern.

Angesichts des dramatischen Mangels an Sekundarschullehrern drohe mit den Gemeinschaftsschulen und der Inklusion der Leistungsdurchschnitt an den Schulen generell zu sinken, warnte Claudia Diepenbrock. „Man kann nicht als Einzellehrer in einer Klasse Förder-, Haupt- und Realschüler sowie Gymnasiasten mit und ohne Förderbedarf gleichermaßen fördern. Dabei bleiben natürlich die Schwachen zurück.“ Inklusion zum Billigtarif, so wie in Sachsen-Anhalt geplant, schade der Idee und den Menschen. Wenn Inklusion in den vor uns liegenden Jahren eine ernst zu nehmende schulpolitische Chance haben soll, müsse mehr Personal an den Schulen bereitstehen.

„Inklusion darf auch nicht bedeuten, dass man Förderschullehrerinnen und -lehrer aus den Förderschulen herausnimmt und diese Schulform personell ausdünnt“, sagte Helmut Pastrik, Vorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung Sachsen-Anhalt (VBE). Bei einem sukzessiven Abbau der Klassen an sonderpädagogischen Einrichtungen müssten die frei werdenden Ressourcen uneingeschränkt in die sonderpädagogische Versorgung der anderen Schularten umgewidmet werden. Förderschulen würden auch weiterhin benötigt, wenn man das Wahlrecht der Eltern ernst nimmt. „Ein inklusives Bildungssystem benötigt nicht weniger, sondern mehr Sonderpädagogen“, machte Pastrik deutlich.

Der VBE habe sich mit dem Thema Inklusion ausführlich befasst. Die VBE Bundesversammlung habe Ende November 2012 ein Positionspapier zur Umsetzung der UN-Konvention, Artikel 24 (Inklusion) beschlossen. Darin heißt es, dass Bildungsgerechtigkeit und Inklusion, Demografie und Eigenständigkeit von Schulen sowohl die großen Zukunftsthemen als auch die Herausforderungen der Gegenwart seien. Die erfolgreiche Gestaltung dieses Prozesses setze ein modernes Lern- und Leistungsverständnis voraus, das sich an der individuellen und intensiven Förderung jedes einzelnen Kindes und Jugendlichen orientiert. Das müsse Folgen haben für Inhalte und Organisation der Lehrerbildung in allen Phasen. Weitere Voraussetzungen seien entsprechende Bereitstellung finanzieller und personeller Ressourcen, um optimale Lern- und Förderbedingungen zu schaffen.

Auf Landesebene sei der VBE in der Arbeitsgruppe „Gemeinsamer Unterricht“ beim Kultusministerium vertreten gewesen. Im Mai 2012 habe die Arbeitsgruppe ein Konzept vorgelegt und zur Diskussion gestellt.

„Fast ein Jahr haben wir nichts mehr von dem Konzept gehört. Inzwischen gibt es ein vom Kultusministerium überarbeitetes Konzept des Landes Sachsen-Anhalt zum Ausbau des gemeinsamen Unterrichts an allgemeinbildenden Schulen. Das Konzept ‚Gemeinsamer Unterricht als Baustein inklusiver Bildungsangebote‘ ist über die Köpfe der Mitglieder der Arbeitsgruppe hinweg beschlossen worden“, kritisierte Pastrik. Das sei ein schlechter Stil.

Die Einrichtung von Kompetenzzentren unterstützender Pädagogik (KuP’s), eine Forderung des VBE, die das Konzept der Arbeitsgruppe noch beinhaltete, sei im Konzept des Landes ohne Begründung einfach gestrichen worden. Kup’s seien wichtig zur Vernetzung und Begleitung der Schulen beim Ausbau des gemeinsamen Unterrichts. Sie sollten Übergänge und Professionalität der Förderung sichern und Aufgaben bündeln. Statt der KuP’s sollen nun die vorhandenen Förderzentren einen Teil der Aufgaben des angedachten Unterstützungs- und Beratungssystems übernehmen, andere Aufgaben werden dem LISA und dem Mobilen Sonderpädagogischen Diagnostischen Dienst (MSDD) übertragen. Anders als der VBE hat sich der SLV von Anfang an gegen Kup’s und für Förderzentren ausgesprochen. „Wir haben gut funktionierende Förderzentren. Es ist effektiver, vorhandene Strukturen mit zusätzlichen Kompetenzen auszustatten als eine neue Organisationsstruktur Kup aufzubauen“, meinte Diepenbrock.

Laut Landeskonzept zum gemeinsamen Unterricht ist die flexible Schuleingangsphase der Grundschule das Kernstück des systematisch begonnenen Weges in Sachsen-Anhalt. Die Mitglieder der Arbeitsgruppe hatten vorgeschlagen, die bisherige präventive Grundversorgung aufzuheben und den Grundschulen je Klasse der Schuleingangshase (20 – 22 Schüler) fünf Lehrerwochenstunden (LWS) Sonderpädagogik zuzuweisen. Übriggeblieben ist, dass ab 2013/2014 neben den Managementstunden fünf LWS ergänzend zugewiesen werden, die zumindest einer sonderpädagogisch qualifizierten Lehrkraft übertragen wird.  Weiterhin fehlen konkrete Angaben zu den Berechnungen der präventiven Grundversorgung an den Grundschulen beziehungsweise den weiterführenden Schulen, wie sie von den Mitgliedern der Arbeitsgruppe vorgeschlagen wurden.

Die Mitglieder der Arbeitsgruppe hatten in ihrem Konzept abschließend darauf hingewiesen, dass der Ausbau des gemeinsamen Unterrichts als wesentlicher Schritt zur Entwicklung inklusiver Bildungsangebote nicht allein mit Maßnahmen des Kultusministeriums umgesetzt werden kann. Der Ausbau des gemeinsamen Unterrichts bedarf der Mitwirkung anderer Ressorts. Auch wenn die vorgeschlagenen Maßnahmen stets zum Hintergrund hatten möglichst kostenneutral zu sein, wird es notwendig sein, Finanzmittel bereitzustellen, um die Umsetzung der Ideen der UN-Konvention zu ermöglichen. Gemeinsamer Unterricht geht nicht ohne sonderpädagogische Professionalität, nicht ohne entsprechende personelle Ressourcen und unterrichtliche Rahmenbedingungen. Gemeinsamer Unterricht/inklusive Bildung bedarf vielfältiger Qualifikationen verschiedener beteiligter Personengruppen. Ebenso ist die Gewährleistung von Barrierefreiheit in den Gebäuden und Anlagen ohne Investitionen schwer leistbar. Die aufgezeigten Vorschläge respektieren die gegenwärtigen Ressourcen und verstehen sich als Minimalplan. „Ist das Konzept der Landesregierung nun doch ein Sparkonzept und kein Zukunftskonzept, oder soll es nur der unterste Baustein vom Hochhaus „Inklusive Bildung“ sein? Ich warne davor, das Zukunftsprojekt ‚Inklusive Bildung‘ gegen die Wand fahren zu lassen“, sagte Pastrik. Dann wären alle Beteiligten zu Recht enttäuscht.

Kultusminister Dogerloh hat die Lehrkräfte zu mehr Engagement beim gemeinsamen Unterricht behinderter und nichtbehinderter Schüler aufgerufen. „Ich glaube, es gibt eine Illusion namens Homogenität. Der hängen manche Pädagogen noch nach“, sagte Dogerloh der Mitteldeutschen Zeitung. Er fordert die Lehrer auf, sich verstärkt an Weiterbildungen zu beteiligen. Es gebe nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht zur Fortbildung. „Das ist Schwachsinn und ein Schlag ins Gesicht der Lehrerschaft“, entgegnete der Vorsitzende des Philologenverbandes Sachsen-Anhalt, Jürgen Mannke, dieser Kritik. Jüngere Kollegen befänden sich „fast alle“ in Qualifizierungsmaßnahmen. Das Problem sei vielmehr, dass „wir sehr viele Lehrer haben, die deutlich über 50 Jahre alt sind und sich nicht mehr qualifizieren können und wollen“, so Mannke. Die Ankündigung von Kultusminister Dogerloh, Schulen, die besonders engagiert den Weg des gemeinsamen Unterrichts beschreiten zu belohnen – sie sollen dauerhaft einen Sonderpädagogen ins Team bekommen – stößt ebenso auf Unverständnis bei den dbb Lehrerverbänden. SLV-Chefin Diepenbrock nannte diese Äußerung „erschreckend“. Es sei nicht hinnehmbar, das Dogerloh Schulen mit einem Sonderpädagogen für gute Arbeit „belohnen“ wolle. Ein Sonderpädagoge je Schule sei vielmehr das Mindeste für erfolgreiche Inklusion. Den Lehrer fehle es nicht an Engagement sondern an Unterstützung.

Hintergrund:

In den vergangenen Jahren ist der Anteil des gemeinsamen Unterrichts an den Schulen des Landes kontinuierlich gestiegen. Waren es vor zehn Jahren noch 1,8 Prozent, nahm der Anteil über sieben Prozent im Schuljahr 2007/08 und 12,7 Prozent im Schuljahr 2009/10 auf jetzt 24,8 Prozent zu. Von den derzeit 14979 Schülerinnen und Schülern mit diagnostiziertem sonderpädagogischem Förderbedarf an öffentlichen allgemeinbildenden Schulen besuchen 3711 den gemeinsamen Unterricht.

Frau Dr. Gagelmann, dbb

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